HERDER, Johann Gottfried
    
      
    
      
    Das Flüchtigste
  
    
      
    Tadle nicht der Nachtigallen
  
Bald verhallend-süßes Lied;
Sieh, wie unter allen, allen
Lebensfreuden, die entfallen,
Stets zuerst die schönste flieht.
    
      
    Sieh, wie dort im Tanz der Horen
  
Lenz und Morgen schnell entweicht,
Wie die Rose, mit Auroren
Jetzt im Silbertau geboren,
Jetzt Auroren gleich erbleicht.
    
      
    Höre, wie im Chor der Triebe
  
Bald der zarte Ton verklingt.
Sanftes Mitleid, Wahn der Liebe,
Ach, daß er uns ewig bliebe!
Aber ach, sein Zauber sinkt.
    
      
    Und die Frische dieser Wangen,
  
Deines Herzens rege Glut
Und die ahnenden Verlangen,
Die am Wink der Hoffnung hangen:
Ach, ein fliehend, fliehend Gut!
    
      
    Selbst die Blüte deines Strebens,
  
Aller Musen schönste Gunst,
Jede höchste Kunst des Lebens,
Freund, du fesselst sie vergebens;
Sie entschlüpft, die Zauberkunst.
    
      
    Aus dem Meer der Götterfreuden
  
Ward ein Tropfen uns geschenkt,
Ward gemischt mit manchem Leiden,
Leerer Ahnung, falschen Freuden,
Ward im Nebelmeer ertränkt;
    
      
    Aber auch im Nebelmeere
  
Ist der Tropfe Seligkeit;
Einen Augenblick ihn trinken,
Rein ihn trinken und versinken
Ist Genuß der Ewigkeit.
    
      
    
      
    In Mitte der Ewigkeit
  
    
      
     Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
  
auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wegen schweben
und schwinden wir.
Und messen unsre trägen Tritte
nach Raum und Zeit;
und sind (und wissen's nicht) in Mitte
der Ewigkeit . . .
    
      
    
      
    Lied des Lebens
  
    
      
    Flüchtiger als Wind und Welle
  
Flieht die Zeit; was hält sie auf?
Sie genießen auf der Stelle,
Sie ergreifen schnell im Lauf;
Das, ihr Brüder, hält ihr Schweben,
Hält die Flucht der Tage ein.
Schneller Gang ist unser Leben,
Laßt uns Rosen auf ihn streun.
    
      
     Rosen; denn die Tage sinken
  
In des Winters Nebelmeer.
Rosen; denn sie blühn und blinken
Links und rechts noch um uns her.
Rosen stehn auf jedem Zweige
Jeder schönen Jugendtat.
Wohl ihm, der bis auf die Neige
Rein gelebt sein Leben hat.
    
      
     Tage, werdet uns zum Kranze
  
Der des Greises Schläf' umzieht
Und um sie in frischem Glanze
Wie ein Traum der Jugend blüht.
Auch die dunkeln Blumen kühlen
Uns mit Ruhe, doppelt-süß;
Und die lauen Lüfte spielen
Freundlich uns ins Paradies