REINIG, Christin
    
      
    
      
    am geländer
  
    
      
    gesetzt den fall ich tät es eben
  
und plötzlich da mein leben fällt
begegnet mir ein zweites leben
und wirft mich wieder in die welt
    
      
    vielleicht ist gar kein toter tot
  
und bleibt ein arbeiter und esser
und schindet sich ums totenbrot
und meint wer atmet hat es besser
    
      
    vielleicht will totsein tapferkeit
  
und heute kann mich nichts bewegen
die hände frei von allem streit
    um einen bauch von brei zu legen
    
      
    
      
    
      
    Gott schuf die Sonne
  
    
      
    ich rufe den wind
  
wind antworte mir
ich bin sagt der wind
bin bei dir
    
      
    ich rufe die sonne
  
sonne antworte mir
ich bin sagt die sonne
bin bei dir
    
      
    ich rufe die sterne
  
antwortet mir
wir sind sagen die sterne
alle bei dir
    
      
    ich rufe den menschen
  
antworte mir
ich rufe – es schweigt
    nichts antwortet mir
    
      
    
      
    
      
    Endlich
  
    
      
    endlich entschloß sich niemand
  
und niemand klopfte
und niemand sprang auf
und niemand öffnete
und da stand niemand
und niemand trat ein
und niemand sprach: willkomm
und niemand antwortete: endlich
    
      
    
      
    Das Jahr 1945
  
(gesehen im Jahr 1945)
    
      
    Wir sind dabei, den Leibgurt zu zerkauen,
  
und keiner mehr, der noch Vergangenes schmähte,
Die Freiheit ist ein Trug, den wir durchschauen,
nichts als der Knechtschaft aufgeplatze Nähte
    
      
    und alle, die der Hunger niedermähte,
  
die wollten Knechte sein und gut verdauen,
und manche schlüpfen durch die Stacheldrähte
und dürfen draußen neue Waffen bauen
    
      
    da hört man Räuber aus der Bibel lesen
  
und Mörder über Menschenrechte schreien
und Vollgefressene sind höhre Wesen-
    
      
    das können wir der Freiheit nicht verzeihen,
  
für uns bleibt alles, wie es stets gewesen,
und wieder wird uns wer erneut befreien.
    
      
    
      
    Der Enkel trinkt
  
    
      
    wir küssen den stahl der die brücken spannt
  
wir haben ins herz der atome geschaut
wir pulvern die wuchtigen städte zu sand
und trommeln auf menschenhaut
     
    
      
    wir überdämmern die peripetie
  
der menschheit im u-bahnschacht
versunken im rhytmus der geometrie
befällt uns erotische nacht
     
    
      
    wir schleudern ins all unsern amoklauf
  
das hirn zerstäubt der schädel blinkt
ein grauer enkel hebt ihn auf
geht an den bach und trinkt
    
      
    
      
    Die ballade vom blutigen Bomme
  
    
      
    hochverehrtes publikum
  
werft uns nicht die bude um
wenn wir albernes berichten
denn die albernsten geschichten
macht der liebe gott persönlich
ich verbleibe ganz gewöhnlich
wenn ich auf den tod vom Bomme
meinem Freund zu sprechen komme
    
      
    möge Ihnen nie geschehn
  
was Sie hier in bildern sehn
    
      
    zur beweisaufnahme hatte
  
man die blutige krawatte
keine spur mehr von der beute
auf dem flur sogar die leute
horchen was nach außen dringt
denn der angeklagte bringt
das gericht zum männchenmachen
und das publikum zum lachen
    
      
    seht die herren vom gericht
  
schätzt man offensichtlich nicht
eisentür und eisenbett
dicht daneben das klosett
und der wärter freut sich sehr
kennt den mann von früher her
Bomme fühlt sich gleich zuhaus
ruht von seiner arbeit aus
auch ein reicher mann hat ruh
hält den sarg von innen zu
    
      
    jetzt geht Bomme dieser mann
  
und sein reichtum nichts mehr an
    
      
    sagt der wärter: grüß dich mann
  
laß dirs gut gehn – denk daran
wärter sieht auch mal vorbei
mach mir keine schererei
essen kriegst du nicht zu knapp
Bomme denn dein kopf muß ab
Bomme ist schon sehr gespannt
und malt männchen an die wand
    
      
    nein hier hilft kein daumenfalten
  
Bomme muß den kopf hinhalten
    
      
    Bomme ist noch nicht bereit
  
für abendmahl und ewigkeit
kommt der pastor und erzählt
wie sich ein verdammter quält
wie er große tränen weint
und sich wälzet – Bomme meint:
das ist alles intressant
und mir irgendwie bekannt
    
      
    denn was weiß ein frommer christ
  
wie dem mann zumute ist
    
      
    auf dem hof wird holz gehauen
  
Bomme hilft das fallbeil bauen
und er läßt sich dabei zeit
schließlich ist es doch soweit
daß es hoch und heilig ragt
Bomme sieht es an und sagt:
das ist schärfer als faschismus
und probiert den mechanismus
    
      
    wenn die schwere klinge fällt
  
spürt er daß sie recht behält
    
      
    aufstehn kurz vor morgengrauen
  
das schlägt Bomme ins verdauen
und da friert er – reibt die hände
konzentriert sich auf das ende
möchte gar nicht so sehr beten
lieber schnell aufs klo austreten
doch dann denkt er: einerlei
das geht sowieso vorbei
    
      
    von zwei peinlichen verfahren
  
kann er eins am andern sparen
    
      
    wäre mutter noch am leben
  
würde es auch tränen geben
aber so bleibt alles sachlich
Bomme wird ganz amtlich-fachlich
ausgestrichen aus der liste
und gelegt in eine kiste
nur ein sträfling seufzt dazwischen
denn er muß das blut aufwischen
    
      
    bitte herrschaften verzeiht
  
solche unanständigkeit
    
      
    doch wer meint das stück war gut
  
legt ein groschen in den hut