MEYER, Conrad Ferdinand
    
      
    
      
    
      
    Am Himmelsthor.
  
    
      
    Mir träumt’, ich komm’ ans Himmelsthor
  
Und finde dich, die Süße!
Du saßest bei dem Quell davor
Und wuschest dir die Füße.
    
      
    Du wuschest, wuschest ohne Rast
  
Den blendend weißen Schimmer,
Begannst mit wunderlicher Hast
Dein Werk von Neuem immer.
    
      
     Ich frug: „Was badest du dich hier
  
Mit thränennassen Wangen?“
Du sprachst: „Weil ich im Staub mit dir,
     So tief im Staub gegangen.“
    
      
    
      
    
      
    Der römische Brunnen
    
      
    
      
    Aufsteigt der Strahl und fallend gießt 
  
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
    Und strömt und ruht.
    
      
    
      
    
      
    Chor der Toten
    
      
    
      
    Wir Toten, wir Toten sind grössere Heere
  
Als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere!
Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten,
Ihr schwinget die Sicheln und schneidet die Saaten,
Und was wir vollendet und was wir begonnen,
Das füllt noch dort oben die rauschenden Bronnen,
Und all unser Lieben und Hassen und Hadern,
Das klopft noch dort oben in sterblichen Adern,
Und was wir an gültigen Sätzen gefunden,
Dran bleibt aller irdische Wandel gebunden,
Und unsere Töne, Gebilde, Gedichte
Erkämpfen den Lorbeer im strahlenden Lichte,
Wir suchen noch immer die menschlichen Ziele –
    Drum ehret und opfert! Denn unser sind viele!
    
      
    
      
    
      
    Ja
    
      
    
      
    Nach einer alten Skizze
    
      
    
      
    Als der Herr mit mächtger Schwinge
  
Durch die neue Schöpfung fuhr,
Folgten in gedrängtem Ringe
    Geister seiner Flammenspur.
    
      
    
      
    Seine schönsten Engel wallten
  
Ihm zu Häupten selig leis,
Riesenhafte Nachtgestalten
    Schlossen unterhalb den Kreis.
    
      
    
      
    »Eh ich euern Reigen löse«,
  
Sprach der Allgewaltge nun,
»Schwöret, Gute, schwöret, Böse,
    Meinen Willen nur zu tun!«
    
      
    
      
    Freudig jubelten die Lichten:
  
»Dir zu dienen, sind wir da!«
Die zerstören, die vernichten,
    Die Dämonen, knirschten: »Ja.«
    
      
    
      
    
      
    Mein Stern
    
      
    
      
    Oft in meinem Abendwandel hefte 
  
Ich auf einen schönen Stern den Blick,
Zwar sein Zeichen hat besondre Kräfte,
    Doch bestimmt und zwingt er kein Geschick.
    
      
    
      
    Nicht geheime Winke will er geben, 
  
Er ist wahr und rein und ohne Trug,
Er beseliget und stärkt das Leben
    Mit der tiefsten Sehnsucht stillem Zug.
    
      
    
      
    Nicht versteht er Gottes dunkeln Willen 
  
Noch der Dinge letzten ewgen Grund,
Wunden heilt er, Schmerzen kann er stillen
    Wie das Wort aus eines Freundes Mund.
    
      
    
      
    In die Bangnis, die Bedrängnis funkelt 
  
Er mit seinem hellsten Strahle gern,
Und je mehr die Erde mählich dunkelt,
    Desto näher, stärker brennt mein Stern.
    
      
    
      
    Holder, einen Namen wirst du tragen, 
  
Aber diesen wissen will ich nicht,
Keinen Weisen werd ich darum fragen,
    Du mein tröstliches, mein treues Licht!
    
      
    
      
    
      
    Das bittere Trünklein
    
      
    
      
    Ein betrogen Mägdlein irrt im Walde,  
  
Flieht den harten Tag und sucht das Dunkel,
Wirft auf eine Felsenbank sich nieder
    Und beginnt zu weinen unersättlich.
    
      
    
      
    In den wettermürben Stein des Felsens  
  
Ist gegraben eine kleine Schale -
Da das Mägdlein sich erhebt zu wandern,
    Bleibt die Schale voller bittrer Zähren.
    
      
    
      
    Abends kommt ein Vöglein hergeflattert,  
  
Aus gewohntem Becherlein zu trinken,
Wo sich ihm das Himmelswasser sammelt,
Schluckt und schüttelt sich und fliegt von hinnen.
    
      
    
      
    Zwei Segel
  
    
      
    Zwei Segel erhellend
  
Die tiefblaue Bucht!
Zwei Segel sich schwellend
Zu ruhiger Flucht!
    
      
    Wie eins in den Winden
  
Sich wölbt und bewegt,
Wird auch das Empfinden
Des andern erregt.
    
      
    Begehrt eins zu hasten,
  
Das andre geht schnell,
verlangt eins zu rasten,
     Ruht auch sein Gesell.