RATHENOW, Lutz
    
      
    
      
    Winterspiel
  
    
      
    Schneemänner rasen
  
nachts in den Straßen.
Schneller als Wind
sieht sie kein Kind.
Mit Bonbonstücken,
Salzstangenkrücken,
schlagen sie Scheiben ein,
setzen sie wieder ein.
In den Geschäften
mit allen Kräften
schmelzen sie weg.
Nasser Fleck.
Es wundern die Leute
sich gestern und heute.
    
      
    
      
    Warum wird ein Mann ein Weihnachtsmann
  
    
      
    Wegen dem Bart? Dem Mantel? Der Mütze? Den Stiefeln?
  
Weil er Treppen steigt und Säcke schleppt?
(Jeder Schritt hält weihnachtsfit …)
Nein, er will Weihnachtsmann sein, weil er dann
alle Bücher zum Verschenken vorher noch lesen kann.
    
      
    
      
    2084
  
    
      
    Wälder betrachten
  
in dreidimensional gestalteten Büchern
Nachts der Traum von Bäumen
am Rande der täglich befahrenen Straße
zwischen drei vier Städten
die keiner mehr trennen kann
Was Vögel sind fragen Kinder
Die Eltern zeigen einen Film
der Reihe „Ausgestorbene Lebewesen“
    
      
    Und einmal pro Woche
  
ziehen die Familien aus
zur Erholung ins Naturmuseum:
bestaunen Gräser Fische Pflanzen
und wundern sich
wie früher es Menschen aushalten konnten
inmitten des Gestanks
nicht künstlich gezüchteter Blumen
    
      
    
      
    Ich freue mich
  
    
      
    Ich freue mich, daß ich Augen hab,
  
die alles ringsum sehn.
Freue mich, daß ich Füße hab,
wohin ich will zu gehen.
Freue mich über meine Ohren,
daß ich die Vögel hören kann -
und zieht der Kuchenduft ins Zimmer,
wie freut mich eine Nase dann.
    
      
    Die Hände greifen, was ich will,
  
die Finger halten selten still -
und meine Haare kitzeln mich,
und was der Kopf denkt, spreche ich.
    
      
    
      
    Deutschland
  
    
      
    Grüß Heil! Sieg Front! Rot Gott!
  
Ich liebe Herren, die Hunde beißen.
Hammer zerschlug Sichel. Ährenkranz,
Totentanz. Und nun das D-Mark-Leben.
Zu spät, zu früh, oh Jammerlust –
Neuer Staat, neues Gedicht. Spiele,
ich spiele gern: Zu-Zu-Zuversicht
    
      
    
      
    Dezember 89
  
    
      
    Der Schnee von gestern,
  
Straßenschleim.
Hokuspokus ohne Hexerei.
Am Himmel sonnt sich eine Sonne -
als wäre es Sommer und heiß.
Fetzenweise löste sich dann
die Haut von uns. Und jetzt?
Die Partei, eine Zwiebel, übt sich
im Enthüllen. Welche Schale färbt sich
schneller puterrot? Abfall, Tränen,
und kein Kern in Sicht...
    
      
    
      
    Früher ist Morgen und Heute scheint weg
  
    
      
    Ich kann mit der Stille einer Wohnung spielen,
  
sortiere die Geheimnisse der Blätterstapel neu.
    
      
    Ich kann mit meinem Rücken knacken, er verrät
  
Botschaften über den Zustand der Wirbelsäule.
    
      
    Jenseits des Fensters ein Stummfilm, das Summen
  
einer Welt, die ihre Laute nicht verschleudert.
    
      
    Ich kann was ich kann: ein Geheimnis behalten,
  
für mich. Bis es allmählich der Körper vergisst.