HERDER, Johann Gottfried
    
      
    
      
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    Für ein Volk ist seine Sprache etwas Besonderes. In  ihr wohnt sein ganzer Gedankenreichtum an Tradition, Geschichte,  Religion und Grundsätzen des Lebens, sein Herz und seine Seele. Die  Sprache, in der ich erzogen bin ist meine Sprache. So wie ein Kind alle  Bilder und neuen Begriffe mit dem vergleicht, was es schon weiß, so paßt unser Geist insgesamt alle Sprachen der Muttersprache an. Sie behält er auf der Zunge, damit er nachher desto tiefer in den Unterschied der  Sprachen eindringe. Sie behält er im Auge, daß, wenn er dort Lücken  entdeckt, er den Reichtum der seinen, liebgewinne und ihre Armut, wo es  sein kann, mit fremden Schätzen bereichere. Sie ist der Leitfaden, ohne  den er sich im Labyrinth fremder Sprachen verirrt. Nicht um meine  Sprache zu verlernen, lerne ich andere Sprachen, sondern ich gehe bloß  durch fremde Gärten, um für meine Sprache Blumen zu holen.
  
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    Es ist ein Zeichen, daß wir uns selbst gering achten,  solange wir uns gegen uns und gegen andere Nationen unserer Sprache  schämen. (…) Die Sprache, in der ich erzogen bin, ist meine Sprache.  Nicht um meine Sprache zu verlernen, lerne ich andere Sprachen; nicht um die Sitten meiner Erziehung umzutauschen, reise ich unter fremde  Völker; nicht um das Bürgerrecht meines Vaterlandes zu verlieren, werde  ich ein naturalisierter Fremder: denn sonst verliere ich mehr, als ich  gewinne. Sondern ich gehe bloß durch fremde Gärten, um für meine  Sprache, als eine Verlobte meiner Denkart, Blumen zu holen: ich sehe  fremde Sitten, um die Meinigen, wie Früchte, die eine fremde Sonne  gereift hat, dem Genius meines Vaterlandes zu opfern.
  
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