 
    
    
      
    
      
    
      
    BENN, Gottfried
    
      
    
      
    
      
    Astern
  
    
      
    Astern - schwälende Tage,
  
alte Beschwörung, Bann,
die Götter halten die Waage
eine zögernde Stunde an.
    
      
    Noch einmal die goldenen Herden,
  
der Himmel, das Licht, der Flor,
was brütet das alte Werden
unter den sterbenden Flügeln vor?
Noch einmal das Ersehnte,
den Rausch, der Rosen Du -
der Sommer stand und lehnte
und sah den Schwalben zu,
    
      
    Noch einmal ein Vermuten,
  
wo längst Gewissheit wacht:
Die Schwalben streifen die Fluten
und trinken Fahrt und Nacht.
    
      
    
      
    Kommt
  
    
      
    Kommt, reden wir zusammen
  
wer redet, ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.
    
      
    Kommt, sagen wir: die Blauen,
  
kommt, sagen wir: das Rot,
wir hören, lauschen, schauen
wer redet, ist nicht tot.
    
      
    Allein in deiner Wüste,
  
in deinem Gobigraun –
du einsamst, keine Büste,
kein Zwiespruch, keine Fraun,
    
      
    und schon so nah den Klippen,
  
du kennst dein schwaches Boot –
kommt, öffnet doch die Lippen,
    wer redet, ist nicht tot.
    
      
    
      
    
      
    Einsamer nie 
  
    
      
    Einsamer nie als im August:
  
Erfüllungsstunde – im Gelände
die roten und die goldenen Brände,
doch wo ist deiner Gärten Lust?
    
      
    Die Seen hell, die Himmel weich,
  
die Äcker rein und glänzen leise,
doch wo sind Sieg und Siegsbeweise
aus dem von dir vertretenen Reich?
    
      
    Wo alles sich durch Glück beweist
  
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge −:
    dienst du dem Gegenglück, dem Geist.
    
      
    
      
    
      
    Mutter
    
      
    
      
    Ich trage dich wie eine Wunde
  
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt
das Herz sich nicht draus tot.
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
    Blut im Munde.
    
      
    
      
    
      
    Aus Fernen, aus Reichen
  
    
      
    was dann nach jener Stunde
  
sein wird, wenn dies geschah,
weiß niemand, keine Kunde
kam je von da,
von den erstickten Schlünden,
von dem gebrochnen Licht,
wird es sich neu entzünden,
ich meine nicht.
    
      
    doch sehe ich ein Zeichen:
  
über das Schattenland
aus Fernen, aus Reichen
eine große, schöne Hand,
die wird mich nicht berühren,
das läßt der Raum nicht zu:
doch werde ich sie spüren
und das bist du.
    
      
    und du wirst niedergleiten
  
am Strand, am Meer,
aus Fernen, aus Weiten:
„- erlöst auch er“;
ich kannte deine Blicke
und in des tiefsten Schoß
sammelst du unsere Glücke,
den Traum, das Loos.
    
      
    ein Tag ist zu Ende,
  
die Reifen fortgebracht,
dann spielen noch zwei Hände
das Lied der Nacht,
vom Zimmer, wo die Tasten
den dunklen Laut verwehn,
sieht man das Meer und die Masten
hoch nach Norden gehn.
    
      
    wenn die Nacht wird weichen,
  
wenn der Tag begann,
trägst du Zeichen,
die niemand deuten kann,
geheime Male
von fernen Stunden krank
und leerst die Schale,
    aus der ich vor dir trank.
    
      
    
      
    
      
    Ein Wort
    
      
    
      
    Ein Wort, ein Satz -: aus Chiffren steigen
    
      
    erkanntes Leben, jäher Sinn, 
    
      
    die Sonne steht, die Sphären schweigen,
    
      
    und alles ballt sich zu ihm hin.
    
      
     
    
      
    Ein Wort - ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
    
      
    ein Flammenwurf, ein Sternenstrich -
    
      
    und wieder Dunkel, ungeheuer,
    
      
    im leeren Raum um Welt und Ich.
    
      
    
      
    
      
    Morgue
    
      
    
      
    Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
    
      
    Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
    
      
    zwischen die Zähne geklemmt.
    
      
    Als ich von der Brust aus
    
      
    unter der Haut
    
      
    mit einem langen Messer
    
      
    Zunge und Gaumen herausschnitt,
    
      
    muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
    
      
    in das nebenliegende Gehirn.
    
      
    Ich packte sie ihm in die Bauchhöhle
    
      
    zwischen die Holzwolle,
    
      
    als man zunähte.
    
      
    Trinke dich satt in deiner Vase!
    
      
    Ruhe sanft,
    
      
    kleine Aster!
    
      
    …..
    
      
    Wir thronen hoch auf kahlen Katafalken,
    
      
    mit schwarzen Lappen garstig überdeckt.
    
      
    Der Mörtel fällt. Und aus der Decke Balken
    
      
    auf uns ein Christus große Hände streckt.
    
      
    
      
    Vorbei ist unsere Zeit. Es ist vollbracht.
    
      
    Wir sind herunter. Seht, wir sind nun tot.
    
      
    In weißen Augen wohnt uns schon die Nacht,
    
      
    wir schauen nimmermehr ein Morgenrot.
    
      
    …..
    
      
    Dann lag auf Kissen dunklen Bluts gebettet
    
      
    der blonde Nacken einer weißen Frau.
    
      
    Die Sonne wütete in ihrem Haar
    
      
    und leckte ihr die hellen Schenkel lang
    
      
    und kniete um die bräunlicheren Brüste,
    
      
    noch unentstellt durch Laster und Geburt.
    
      
    .....
    
      
    Sie aber lag und schlief wie eine Braut:
    
      
    Am Saume ihres Glücks der ersten Liebe
    
      
    und wie vorm Aufbruch vieler Himmelfahrten
    
      
    des jungen warmen Blutes.
    
      
    Bis man ihr
    
      
    das Messer in die weiße Kehle senkte
    
      
    und einen Purpurschurz aus totem Blut
    
      
    ihr um die Hüften warf.
    
      
    …..
    
      
    
      
    
      
    Schöne Jugend
    
      
    
      
    Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löchrig.
    
      
    Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
    
      
    fand man ein Nest von jungen Ratten.
    
      
    Ein kleines Schwesterchen lag tot.
    
      
    Die andern lebten von Leber und Niere,
    
      
    tranken das kalte Blut und hatten
    
      
    hier eine schöne Jugend verlebt.
    
      
    Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
    
      
    Man warf sie allesamt ins Wasser.
    
      
    Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!
    
      
    …..
    
      
    
      
    
      
    Verlorenes Ich
    
      
    
      
    Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären,
  
Opfer des Ion −: Gamma-Strahlen-Lamm −,
Teilchen und Feld −: Unendlichkeitschimären
    auf deinem grauen Stein von Notre-Dame.
    
      
    
      
    Die Tage gehn dir ohne Nacht und Morgen,
  
die Jahre halten ohne Schnee und Frucht
bedrohend das Unendliche verborgen −,
    die Welt als Flucht.
    
      
    
      
    Wo endest du, wo lagerst du, wo breiten
  
sich deine Sphären an −, Verlust, Gewinn −:
ein Spiel von Bestien: Ewigkeiten,
    an ihren Gittern fliehst du hin.
    
      
    
      
    Der Bestienblick: die Sterne als Kaldaunen,
  
der Dschungeltod als Seins- und Schöpfungsgrund,
Mensch, Völkerschlachten, Katalaunen
    hinab den Bestienschlund.
    
      
    
      
    Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten
  
und was die Menschheit wob und wog,
Funktion nur von Unendlichkeiten −,
    die Mythe log.
    
      
    
      
    Woher, wohin – nicht Nacht, nicht Morgen,
  
kein Evoë, kein Requiem,
du möchtest dir ein Stichwort borgen −,
    allein bei wem?
    
      
    
      
    Ach, als sich alle einer Mitte neigten
  
und auch die Denker nur den Gott gedacht,
sie sich den Hirten und dem Lamm verzweigten,
    wenn aus dem Kelch das Blut sie rein gemacht,
    
      
    
      
    und alle rannen aus der einen Wunde,
  
brachen das Brot, das jeglicher genoß −
o ferne zwingende erfüllte Stunde,
die einst auch das verlorne Ich umschloß.